Begegnung mit dem Tod (1)
Meine Freundin Regina
Zwei Freundinnen: Die eine – klein, dunkelhaarig – die andere sehr groß, schlank, mit langen blonden Haaren und stets einem Scherz auf
den Lippen.
Viele gemeinsame Spaziergänge mit Hund ließen uns zusammenwachsen. Wir philosophierten dabei über Gott und die Welt und sprachen oft
über das Weiterleben nach dem Tod.
Es war ausgemacht, dass diejenige, die zuerst stirbt, sich bei der anderen melden würde.
Mit 36 Jahren verspürte Regina einen kleinen Knoten in der rechten Brust nahe der Achselhöhle – er wurde umgehend operativ entfernt. Dabei stellte sich heraus, dass er bösartig war. „Dabei war ich doch erst vor einem Vierteljahr bei der Vorsorge!“ sagte sie, erschrocken.
Nach der OP folgte eine leichte Chemo.
Alles wieder in Ordnung, hieß es.
Aber es war nicht in Ordnung.
Im darauffolgenden Jahr tauchten gleich zwei Knoten auf, einer davon direkt in der Achselhöhle: Operative Entfernung der Knoten – erneut Chemo – bald weitere Metastasen in der Brust und dann die Entscheidung zur Amputation der Brust. "Sie hatten bei der OP vergessen, den Lymphknoten mit zu entfernen", sagte sie völlig außer sich.
Wie kann man eine junge Frau trösten, die sich verstümmeln lässt in der Hoffnung zu überleben?
Wieder Chemo – diesmal mit Haarverlust. Und meine Regina konnte noch immer über ihre Glatze und ihr von der Chemo aufgequollenes
Gesicht Witze machen.
Allmählich wurde sie jedoch stiller und ernster und wir beide ahnten, dass ihre Zeit auf Erden dem Ende zuging. Als ich eines Tages ins
Krankenhaus kam, zeigte sie mir, dass sich auf ihrer fast kahlen Kopfhaut viele kleine Knötchen gebildet hatten: „Das
ist auch Krebs - sogar auf dem Kopf.“
Die Chemotherapie hatte also nichts gebracht, nur ihr die letzte Kraft geraubt. Es war unglaublich, wie schnell alles seit dem
Auftreten des ersten Knotens gegangen war – nur knapp über ein Jahr! Und mir, die immer gut trösten und aufmuntern konnte, fiel nichts
mehr ein.
Regina war sehr tapfer. Sie beklagte sich nie, und nur einmal sah ich Tränen in ihren Augen. Einige Tage später teilte sie mir mit, dass sie das Krankenhaus verlassen und zu ihrem Vater und Stiefmutter ziehen würde, die sie pflegen würden. In ihre vor dem Krankenhausbesuch neu hergerichtete Wohnung mit dem neu gekauften Sofa konnte sie nicht mehr zurück.
Das Wort Tod traute sich keine von uns in den Mund zu nehmen. Warum fiel uns das nur so schwer, obwohl wir doch so oft über den Tod gesprochen hatten? Wir redeten über alles und jenes, aber nie über das, was ihr bevorstand — nämlich ein qualvoller Tod!
Bald konnte sie das Pflegebett nicht mehr verlassen. Sie bekam zunächst Morphium als Pflaster, dann als Spritze und bald lag sie am Schmerzmittel-Tropf und konnte sich selber bei Bedarf etwas Morphium zuführen. Dennoch – die Schmerzen nahmen zu und die Abstände, bis sie sich den nächsten „Schuss“ geben musste, wurden immer kürzer.
Schon damals konnte ich über meine Hände Energien fließen lassen, was wir beide als ein Prickeln und Wärmegefühl wahrnahmen. Jedes Mal,
wenn ich bei ihr war, bat sie mich um Handauflegen. „Danach brauche ich einige Stunden kein Morphin mehr“, sagte sie: „Das hilft
mir besser“.
Regina wurde immer blasser und spitzer im Gesicht, war ständig müde und schlief viel. Dann kam der Arzt täglich, um nach ihr zu sehen.
Es kam der Moment, wo ihr klar war, dass sie bald sterben würde und sie das auch aussprach. Ich erinnerte sie daran, sich bei mir zu melden, wenn sie auf der anderen Seite sein würde. Sie nickte nur und schlief wieder ein. Es war diese Art von Schlaf, der so lange die Seele zwischen den zwei Welten hin und her driften lässt, bis der Faden schließlich reißt und sich die Seele aus dem Körper befreit.
Ich kam täglich zu ihr, dabei sie und das Geschehen intensiv beobachtend.
Ist der Tod wirklich so schrecklich, fragte ich mich, oder ist es nur der Schock, wenn Menschen sich angesichts des Verlustes eines
geliebten Menschen zugleich auch ihrer eigenen Angst vor dem eigenen Ende stellen müssen?
Meine Freundin Regina schien jedenfalls keine Angst vor dem Übergang zu haben.
Ich registrierte ihre stets blasser und durchsichtiger werdende Haut, hörte minutenlang ihrem flachen Atem mit den dazwischen
immer längeren werdenden Atemaussetzern zu und ließ dabei die gemeinsamen Erlebnisse an mir vorbeiziehen.
Eines Morgens rief ihre Stiefmutter an: „Ich glaube, Regina liegt im Sterben. Wenn du sie nochmals lebend sehen willst, musst du dich
beeilen.“
Ich setzte mich ins Auto und fuhr los. Aber als ich eine halbe Stunde später dort war, war es schon zu spät.
Beklommen ging ich in ihr Zimmer.
Da lag sie – so still, so ruhig - ihr Leben, in dem sie noch so viel vorhatte, war endgültig vorbei. Eine Freundschaft war zu Ende gegangen.
Ich stand nahe am Kopfende und beugte mich zu ihr herunter und flüsterte: „Jetzt hast du es endlich geschafft, Regina. Wir sehen uns im Jenseits wieder – mach’s gut!“
Plötzlich fuhr ich zurück – es war als sei etwas gegen mich geknallt, als hätte sich Regina – furchtbar erschrocken über meine Worte - aufgerichtet und sei dabei gegen mich geprallt. Einbildung, dachte ich, beugte mich nochmals vor und sagte: „Du bist gestorben, Regina, du bist auf der anderen Seite!“
Wieder „prallten“ wir mit Kopf und Oberkörper zusammen. Nein, das war keine Einbildung! Mein Herz klopfte heftig. Ich setzte ich mich
neben ihr Bett auf einen Stuhl und redete mit ihr, als sei liege sie noch da. Regina war wohl im Schlaf gestorben und hatte es nicht einmal gemerkt.
Gerade verstorben, zeigte sie mir dennoch, dass sie noch quicklebendig war – für mich spürbar und sogar riechbar. Denn als ich das
Zimmer verließ, zog der süßliche Geruch des Todes hinter mir her in das Wohnzimmer. Auch ihre Stiefmutter konnte das riechen und
flüsterte: „Sie ist mitten unter uns.“
Dann kamen die Bestatter um ihre Leiche abzuholen. Sie packten sie bei Armen und Beinen und ließen ihren Körper respektlos in den Zinksarg hereinplumpsen. Als sie mit ihr fort gegangen waren, wich auch langsam der süßliche Geruch aus dem Raum.
Ihre Stiefmutter bat mich, noch mit ihr zu Reginas Wohnung zu fahren, da sie noch Kleider, für ihre Aufbahrung holen wollte.
Kaum, dass wir in der Wohnung waren, war der süßliche Geruch wieder da. Wir nickten uns wissend zu. Das konnte nur bedeuten, dass Regina
wieder mitten unter uns in ihrer geliebten Wohnung war – für unsere Augen unsichtbar.
Ein seltsames Gefühl des „Überwachtwerdens“ beschlich mich. Unsichtbar mitten unter uns stand sie also und hörte unser Gespräch mit an.
Und ich fragte mich, wie schlimm muss es für Verstorbene sein, wenn sie um uns herum sind, und wir, vielfach nichts ahnend, uns über sie
unterhalten? Wie lange sind sie um uns herum, bis sie weiterziehen?
Was geht in ihnen vor, wenn kurz nach ihrem Tod nach Schmuck und Geld gesucht wird, sich die Kinder über das Erbe unterhalten und deswegen gar
streiten? Wenn sie hören müssen, was wir wirklich von ihnen hielten?
Wie müssen sie sich fühlen, wenn sie ihre eigene Beerdigung mitansehen müssen und gar geheuchelte Tränen und Worte sehen und hören?
Unsere Toten sind nun mal nicht tot – ganz im Gegenteil – sie sind quicklebendig, und sicherlich oftmals am Verzweifeln,
weil sie sich nicht bemerkbar machen können.
Jetzt fragen Sie sich bestimmt: Hat sich Regina gemeldet? Ja, in der Tat! Ein Vierteljahr später, als ich gerade telefonierte, war plötzlich der Geruch von Glenmorangie-Whisky im Raum. Und ich wusste sofort: Regina ist da – sie hat ihr Versprechen gehalten. Denn jedes Mal, wenn sie bei mir war, erbat sie sich einen Glenmorangie, den sie seit unserem gemeinsamen Schottland-Urlaub so sehr liebte.
Dieses Erlebnis mit meiner verstorbenen Freundin Regina hatte seinerzeit meine Einstellung zum Tod und Leben entscheidend verändert und erleichterte mir den Abschied von meinem Mann, der einige Jahre später auch an Krebs erkrankte und daran starb.